• Philip Peter Schmidt:
    "Seele am Faden", in Der Abend, Berlin, 13.12.197
    Der Abend (Berlin)
    13. Dezember 1979

    Seele am Faden
    Abenteuer der Gefühle: Godehard Lietzow bei Dinkler


    "Es sind Fragmente einer eigenwilligen Konfession, die Godehard Lietzow in seiner ersten Einzelausstellung vorzeigt. Die poetischen Titel, mit denen er seine Tuschfederzeichnungen und Aquarelle versieht, geben nur unzulänglich Aufschluss über das, was zu sehen ist. Ein "Gestürzter Krieger" und eine "Schöne Dunkelente" sind ebenso zu orten wie die "Wassertannen" oder der "Hügel mit "Wasserzeichen". Doch dabei belässt es Lietzow nicht. Das sind für ihn Signale, die nur zufällig ein Konzept verraten. "Beim Zeichnen interessiert mich die laufende Spur meiner Hand" – der Vorgang ist für Lietzow wichtig.
    Jener Vorgang, der seismographisch Emotionen registriert, Nervosität, Kälte und Wärme, Affinität und Aggression. Lietzow hält Augenblicke fest, in dem er sich der Eingebung des Augenblicks unterordnet. Man hat fast den Eindruck, als verfolge der Künstler mit gespanntem Interesse, ja bisweilen mit Entsetzen, was eine Hand zu Papier bringt. Da werden Ausweglosigkeiten sichtbar, Fäden, die sich verlieren, Ereignisse, die sinnlos scheinen. Der Entstehungsprozess wird zum Abenteuer, das atemlos macht.

    "Meine Innenwelt ist meine Außenwelt", sagt Lietzow und auch "es geht mir nicht darum, eine besonders schöne Zeichnung zu machen, sondern eine Zeichnung, von der ich sagen möchte – das bin ich, das steckt in mir drin!" Das hat nichts mit dem sinnlichen Konzept phantastischer Kunst zu tun, allenfalls mit der uneingestandenen Sehnsucht nach Sinnlichkeit.

    Die eigenwillige Ästhetik der geballten Nervosität erschließt sich erst auf den zweiten Blick – wie nahezu alles, was als Dialog mit dem eigenen Ich entsteht, auf der Suche nach dem Eingang und Ausgang einer Innenwelt, die sich nicht leicht offenbart, und sich zugleich vor schier unvermeidbaren Einflüssen bewahren möchte. Assoziationen bleiben dabei nicht aus, Klee und Wols, Kubin und Michaux haben, so scheint es, nur zufällig vor Lietzow gelebt, Väter seiner Imaginationen sind sie gewiss nicht.

    "Teetrinkers Nacht", "Der dunkle Schlaf" und "Der helle Tag" – die scheinbar ungezügelte Vehemenz der Tuschzeichnungen korrespondiert hier in faszinierender mit der sanften Intensität der Aquarellfarben. Das sind keine Visionen oder Träume, keine Phantasmagorien – eher Augenblicke der Verhaltenheit, Bilder wie jene vom Wassertropfen, die vor dem Fall zu Eis erstarren. Bilder aber auch, die das Ende eines Tages als "englischen Abend" persiflieren oder einen "Inselmittag" in transparente Fernen rücken.
    Hier hat ein Künstler, für den "die einzig verlässliche Wahrheit die subjektive Wahrheit" ist, sein Innenleben zur Besichtigung freigegeben. ein Ereignis, das bei aller Faszination, die von ihm ausgeht, nicht unbedingt verpflichtend sein sollte."

    Philip Peter Schmidt

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